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EDITORIAL

 

     Circus ist ein breiter Begriff, denn er impliziert die Arena, die Rennbahn der Antike, genau so wie die kreisförmige Schaubühne unter rot-weiß gestreiften Planen, ein Wagenrennen auf Leben und Tod und einen Elefanten der einbeinig auf einem Ball balancierend, die Zuckerwatte essende Menge übersieht. Manchmal beschreibt er ein scheinbar unkontrolliertes Durcheinander, in anderen Momenten eine perfekt getimte Show.
     Circus sind Inseln, abgeschlossene Räume, in denen grundsätzlich eine alternative Realität zum Alltag draußen gilt, denn Circus heißt Opulenz, Fülle, Sensation und ist Spektakel, Inszenierung, Theater! In einem zeitlich beschränkten Rahmen werden hier Körperlichkeit und Abenteuer, das Leben in der Potenz angeboten.

 

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     Die neue Adato zeigt diese Orte, diese Mittel der Rekreation erst etwas später und stellt zuerst die grundsätzliche Frage, von welchem Leben, von welchem Alltag wir uns denn so radikal erholen müssen. Clio Van Aerdes Performance, Syndrome de la décélération befasst sich sehr explizit mit der Verweigerung von Leistung, des olympischen Grundgedankens - schneller, höher, stärker -, der zum Leitsatz unserer Welt geworden ist. In diesem Kontext haben wir uns auch mit Jan Teunen, Coautor von Officina Humana unterhalten und besprochen wie das Büro der Zukunft gestaltet/inszeniert werden kann, dass es zur Potentialentfaltung des Individuums beiträgt. Oder ob nicht eigentlich das Selbstverwirklichungsversprechen durch das Mittel der Arbeit ein Grundproblem und Krankmacher in unserer aufgeklärten und kapitalistischen Gesellschaft ist.

 

     Wenn Architektur und Sport zusammen kommen, ist die Politik nie weit. Sei es im Falle der, im nationalsozialistischen Deutschland veranstalteten Olympiade, die die physische Überlegenheit der „arischen Rasse“ propagieren wollte und das Vorhaben spätestens dann karikatureske Züge annahm, als der damals 25-jährige, afroamerikanische Leichtathlet Cornelius Johnson Gold mit einem Olympischem Rekord von 2,03 m im Hochsprung holte. Oder sei es im Falle des 15. Mai 1987, als sich auf der alljährlichen Feier zu Titos Geburtstag, kleinere Gruppen an tanzenden Vertretern der einzelnen Teilrepubliken aus der synchronen Choreographie lösten, auf ihre eigene Melodie zu tanzen begannen und das Ende des jugoslawischen Modells ankündigten – das alles passierte in Stadien.

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     Und so ist ein großer Teil dieses Hefts dem Thema der Architektur als politisches Propaganda Instrument vorbehalten. Ein fiktives Gespräch zwischen dem französischen Revolutionsarchitekten Étienne Boullée und Albert Speer, u.a. "Generalbauinspektor" für Hitlers Germania, sowie "Reichsminister für Bewaffnung und Munition" zu Kriegszeiten, verhandelt die moralischen Verantwortung des Planenden in einem totalitären Regime und gegenüber einer Gesellschaft. Darüber hinaus aber sind es die klassizistische Megalomanie und der Rückgriff aufs vermeintliche Ideal der Antike, die uns im Kontext von Circus besonders interessieren.

 

     Zuletzt rührt die Beschäftigung der Adato in diesem Heft mit dem Thema Circus aus der Intuition, dass panem et circenses gegenwärtig und über das Sportjahr 2018, das mit den Winterspielen in Pyeongchang begann und mit dem FIFA World Cup im Juni in Russland seinen ambivalenten Höhepunkt erreichen wird, hinaus höchst aktuell ist:

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     Panem et circenses geht auf den römischen Dichter Juvenal zurück. Vor rund zweitausend Jahren, zu Zeiten der Regentschaft des Caesar Erben Kaiser Augustus beschrieb er die Erstarkung des Senats. Er beobachtete, dass die Wahlen der Magistrate zur reinen Formsache verkamen während eine, von Brot und Spielen, billigem Getreide und eindrucksvoll inszenierter Unterhaltung, physisch und emotional gesättigte, betäubte Gesellschaft schwieg. Und das kommt uns dann manchmal doch sehr zeitgenössisch vor.

 

     Aber der Circus ist nicht allein moralisch verwerflich, sondern auch Sehnsuchtsort und das Versprechen auf Poesie. Und so schaut sich Adato die schönen Räume und die Geschichten an, in denen wir alle immer wieder gerne Platz nehmen und uns vom Spektakel, von der Traumlandschaft wegbringen lassen.

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